Industrie 4.0 – Simulationstechniken und Digitalisierung

„Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.“ – Dieses Zitat wird gerne Kaiser Wilhelm II. zugeschrieben und oft in unserem Zusammenhang zitiert, obwohl er es möglicherweise garnicht um 1900 gesagt haben mag. In einem ähnlichen Kontext kann man aber auch von Steve Jobs, dem Begründer und Visionär von Apple, lesen, wie er die Ablösung der Musik-Cassetten durch das digitale mp3-Format und die darauf aufbauenden Internet- und Musik-Streaming-Angebote prophezeite.

Technologien werden schnell verdrängt.

Das Verschwinden von z.B. AGFA oder KODAK als Filmhersteller aufgrund der Möglichkeiten der Digitalfotografie oder die enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Marken NOKIA und BLACKBERRY durch die „Touch-Technologie“ in Mobil-Telefonen vor gut 10 Jahren sind nur wenige (von vielen anderen) Beispielen desgleichen Phänomens: Neue Technologien sind durchaus in der Lage, in zuvor nicht gekannter Geschwindigkeit weltweit drastische Veränderungen in allen Lebensbereichen herbeizuführen. Und vor wenigen Tagen kann man von Joe Käser, dem SIEMENS-Chef, die Mahnung „Die Digitalisierung wird viel schlimmer als unser Stellenabbau.“ lesen, die er bestimmt nicht zur Beschwichtigung seiner geplanten Umstruk-turierungen gesagt hat.

Alles der gleiche Tenor, immer das gleiche Ergebnis!

Ich schreibe hier als Professor für die (oft ungeliebten) Ingenieur-Grundlagenfächer der klassischen Technischen Mechanik inkl. Elastostatik. Dabei stellt sich für mich in Vorbereitung jedes einzelnen Semesters immer wieder die entscheidende Frage nach einer Schwerpunktverschiebung oder Neugewichtung der Themen in Richtung „Simulationstechniken und Digitalisierung“: Wie „zeitgemäß“ ist meine Hochschullehre (noch) – ohne auf jeden Hype aufzuspringen? Und was sind vermeintlich „neue“ und wichtige Forschungsschwerpunkte für industrienahe Anwendungen, die es ebenfalls zu vermitteln gilt!?

Digitalisierung oder Daten?

Im Ingenieurwesen spielen Simulationen oder noch allgemeiner Berechnungen auf welchem Niveau auch immer schon seit vielen Jahren und Jahrzehnten eine entscheidende Rolle im Produkt-Entstehungsprozess – ohne dies geschichtlich überstrapazieren zu wollen. In jüngster Zeit denken wir dabei an Anwendungen mithilfe verschiedener Software-Programme (neudeutsch „Apps“) auf entsprechend leistungsfähigen Computern in nahezu allen Bereichen in denen Ingenieure und (Natur-)Wissenschaftler heute tätig sind. Auch dies könnte schon seit langem man als „Digitalisierung“ bezeichnen, weil wir dabei letztlich Daten, Zeich-nungen, Ideen, Zusammenhänge und ganz allgemein Informationen „digital“ verarbeiten.

Das bezeichnen wir aber gerade nicht mit diesem Synonym, sondern doch vielmehr den modernen Umgang und das alle Lebensbereiche durchdringende Phänomen des „Überall-Internets“, der ständigen Verfügbarkeit aller Daten: Viele (bald „alle“ (?)) Geräte (und Menschen!) kommunizieren in irgendeiner Art & Weise miteinander und tauschen Daten und Informationen untereinander aus. Sollten wir dies nicht eher als „digitale Vernetzung“ aller Lebensbereiche nennen? Dies ist die entscheidende und disruptive (!) Veränderung in unserer aktuellen Situation – im privaten wie beruf-lichen Alltag. Selbst G. Orwell konnte in „1984“ wohl nur einige Dinge aufzeigen, die heute durch Siri, Alexa oder Cortana selbstverständlich sind …

Wie es weitergeht?

Was bedeutet dies nun für die industrielle Anwendung, für einzelne Teildisziplinen, oder sogar für die Ausbildung und Hochschulbildung? Haben wir heute die richtigen Konzepte für die Berufsbilder in wenigen Jahren, von denen wir heute noch garnicht wissen, wie diese aussehen? Werden wir in 10 oder 15 Jahren in Deutschland noch Kurbelwellen schmieden? Brauchen wir diese dann überhaupt noch?

Es wird klar: Es ist in keiner Weise möglich, hier und an dieser Stelle umfassend über diese Umwälzungen auch nur in Ansätzen zu schreiben … ;-( Deshalb nur einige Punkte – vielleicht Schlaglichter, vielleicht falsche Prognosen, vielleicht aber auch Visionen zu Entwicklungen im Entstehungsprozess beginnend bei der ersten Idee zu einem Produkt, den ersten Zeichnungen, einer Kostenabschätzung, einer Simulation der Festigkeit, einer Abschätzung zur Lebensdauer, einer Optimie-rungsschleife zur Gewichtsanpassung, einer Freigabe zum ersten Prototyp, einer (Serien-)Fertigung, … und und und …

All dies wird schon heute durch Rechner begleitet.

Der „digitale Zwilling“ im Computer wird bald bei allen Pro-dukten zur Selbstverständlichkeit. Ein Kunde wird „sein“ Produkt virtuell anschauen, begutachten und einschätzen können, bevor auch nur ein „klassisches“ Werkzeug zur Fertigung dazu in Betrieb war. Spannend ist und wird zunehmend sein, dass alle Einzelteile eines Produkts „voneinander“ wissen, beispielsweise ihre Betriebszustände untereinander austauschen, einen Serviceplan abstimmen und auf mögliches Versagen oder Überbeanspruchung hinweisen. Die Information über einen bald anstehenden Ölwechsel im Kfz ist in diesem Szenario nur eine triviale Geschichte am Rand, ebenso wie der Kühlschrank, der vor der Geburtstagsfeier einen Becher Sahne für die Torte im Web bestellt – und dieser Becher dann per Drohne kurze Zeit später in den Haushalt geliefert wird. Wäre es nicht aber auch erstrebenswert, wenn ein sicherheitsrelevantes Bauteil (vielleicht eine Schraube im Lager einer Eisenbahn-Brücke oder in einem Personenaufzug) einem automatisierten „Überwachungssystem“ seinen Gesundheitszustand mitteilen würde? Gleichzeitig wird eine Bestellung und Revision ausgelöst und eingeplant … und rückwirkend in der Konstruktion die entsprechenden Schlüsse zur Optimierung dieser Komponente gezogen und in der kompletten Entwicklungskette die Veränderungen in der Planung ausgelöst.

Was ist dazu notwendig?

Wie weit sind wir bereit, dies weiter zu spinnen? Was ist dazu notwendig?
Zumindest wird deutlich, dass die Initiative „Industrie 4.0“ der deutschen Wirtschaft vor wenigen Jahren eine gute Entscheidung war, die – dankbar aufgegriffen von der Politik und wiederum nur halbherzig umgesetzt, wie viele Kritiker sagen – offensichtlich eine Initialzündung zur Sensibilisierung und Beschäftigung mit diesem Thema auch in Deutschland gewesen ist. Viele wichtige Themen und Zusammenhänge konnten damit deutlich hervorgehoben und auch einer breite(re)n Bevölkerungsschicht zumindest in Bruchteilen nahegebracht werden.

Nur um dies zu verdeutlichen: Aus meiner Sicht ist damit der Grundstein für ein breiteres Verständnis der Zu-sammenhänge und eine gemeinsame Sprache gelegt worden. „Gemeinsame Sprache“ im gesellschafts-politischen Sinn, aber auch das Verständnis zur Schaffung einer möglichst gemeinsame Kommunikationsebene der beteiligten Partner und Geräte. So ist ersichtlich, dass es erst damit möglich ist, auch nur annähernd von einer „Durchgängigkeit der Daten“ zu sprechen, deren Berücksichtigung einen Innovationsschub auslösen kann, weil dadurch viele (zeitaufwändige) Prozesse erst möglich oder zumindest deutlich beschleunigt werden (können).

Forschung & Lehre an Hochschulen

Ich halte die hier genannten Punkte zur Zeit für die vordringlichsten, die wir in der Hochschul-(Aus)Bildung vermitteln können und müssen: Forschung & Lehre an Hochschulen
Wir sprechen nun also vom „Datenmanagement“ mit unterschiedlichsten Fragestellungen und ständig wachsender Komplexität: „Welche Software kann welche Daten und in welcher Form lesen?“ – „Wann stehen welche Daten in welchen Form zur Verfügung?“ – „Wer und wie kann man Informationen und Daten zurückverfolgen?“ – „Wie wird es möglich, nachträglich Änderungen in den Daten vorzunehmen, wenn beispielsweise an einer Konstruktion ´was geändert oder durch einen Kunden schlicht eine andere Farbe des Produkts gewünscht wird?“ – „Wann und wie muss ein Datenstand eingefroren werden?“ Für all diese Punkte muss ein Verständnis aufgebaut werden und dies ist in sich wiederum ein dynamischer Prozess.

Und wie in vielen anderen Bereichen auch, werden wir erst im Rückblick erkennen können, welche Schwerpunkte richtig und welche weniger gut waren und welche „klassischen“ Themen dafür vernachlässigt, anderer aber vielleicht auch wieder wesentlich mehr betont werden müssen.

Außerdem ist klar, dass die „Digitalisierung“ nicht erst kommt, sondern längst da ist. Um uns nicht überrollen zu lassen, sollten wir diese – so gut wie möglich – in unserem Bereich aktiv mitgestalten.

Zum Autor


Dr. Herbert Baaser ist Professor an der Technischen Hochschule Bingen.